Mittwoch, 3. Oktober 2007
Vorurteile schützen vor dem Denken
Menschen sind in der Lage, aus den auf sie einströmenden Informationen zu lernen. Sie sammeln Erfahrungen und können beim wiederholten Auftreten einer Situation adäquat reagieren, ohne den konkreten Fall erst durchdenken zu müssen. Das war „früher“ von Vorteil („Löwe – schnell weg“) und ist es heute noch („Besoffener Glatzkopf – besser Schnauze halten“). Verselbstständigen sich Erfahrungen bzw. versteckt sich ein Mensch, statt die Bereitschaft zum Denken zu zeigen, hinter seinem Erfahrungsschatz, werden aus Erfahrungen Vorurteile.
Wohl jeder Mensch hat einige davon („Die Grünen hätte man rechtzeitig verbieten sollen“), hält sich mit deren exzessiver Verkündigung aber wohlweislich zurück – schließlich hat man ja frühzeitig die Erfahrung gemacht, dass Reden zwar Silber, Schweigen aber mitunter Gold sein kann.
Ausdrücklich verlangt wird Vorurteilsfreiheit – zumindest in beruflichen Fragen – von Journalisten. Die Meinung des Schreiberlings – und dazu zählen auch dessen Vorurteile – hat in einem Bericht nichts verloren. Aber es ist ja so bequem, seinen Vorurteilen Auslauf zu geben. Schließlich muss man dann weniger denken und noch weniger recherchieren.
Ein aktuelles Beispiel für diese Berufsauffassung lieferte am gestrigen Tage der Chefreporter meiner Leipziger Lokalpostille ab. Er erzählte in großer Aufmachung eine herzige Tag-der-deutschen-Einheit-Geschichte. Zwei Knaben spielten 1942 miteinander, Kriegswirren und deutsche Teilung beendeten die Eisenbahn- und Sandkastenfreundschaft. Jetzt trafen beide einander wieder, der eine hat ein Leben in Bayern, der andere eines in Sachsen (fast) hinter sich. Und die Spieleisenbahn gibt’s immer noch.
Es hätte eine schöne Geschichte sein können – hätte mein werter Berufskollege nicht in die Kiste seiner Vorurteile gegriffen. Der „Knabe Ost“ war ein durchschnittlicher DDR-Bürger, aber ein wenig auch dagegen: Mutig löckte er wider den Stachel, war – so der Bericht – der einzige Bewohner des ganzen elfgeschossigen Plattenbaus, der nie die geforderte Fahne aus dem Fenster hängte und sogar den „Haus-Genossen“ widersprach. Dieser „einzige Aufrechte“ erinnert mich ein wenig an die Mär von der einen Stimme, die in irgendeinem deutschen Kaff bei allen Wahlen gegen Adolf Hitler abgegeben worden war. Ich habe selbst 29 Jahre DDR miterlebt; zur totalen Beflaggung fehlte trotz aller Agitation stets mehr als nur ein Stück Stoff …
Aber es kommt noch besser: Der ergraute Chefreporter greift noch einmal tief in die Schatzkiste seiner Berufs- und DDR-Erfahrung. Der „Knabe Ost“ war ein Nichtgenosse. Für alle Spätgeborenen: Er gehörte nicht der staatstragenden SED an – wie die übergroße Mehrheit der DDR-Bürger auch. Schlimmes widerfuhr ihm deshalb: „Auf die Plattenwohnung, 70 Quadratmeter groß, musste der Nicht-Genosse Wagner viele Jahre warten“, schildert der Chefreporter die Schikanen, denen die Aufrechten ausgesetzt waren.
Was sind „viele Jahre“? Zehn? Zwanzig? Vierzig? Rechnen wir mal nach. Laut des Chefreporters Text bezog Nicht-Genosse Wagner seine Platte in Leipzig-Grünau im Jahre 1980. Als Journalist, der sein Handwerk schon zu Zeiten der roten Genossen erlernt und ausgeübt hat, sollte der Herr Chefreporter wissen oder zumindest nachschlagen können, dass der Grundstein für das Neubaugebiet Leipzig-Grünau am 1.6.1976 gelegt wurde. Wie es Nicht-Genosse Wagner, der 1980 einzog, geschafft hat, viele Jahre auf seine Plattenwohnung zu warten, wird wohl auf ewig ein Geheimnis des Chefreporters und seiner Vorurteile bleiben.

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