Donnerstag, 15. Mai 2008
Nachruf auf einen Freund oder: Am Tag, als auch Viagra nicht mehr half
Er hat es getan. Oder besser gesagt: Er tut es nicht mehr, vielleicht sogar nimmermehr. Oder, wie Edgar Allan Poe the Raven im Original so herrlich krächzen ließ: Nevermore. Er – das ist ein beinahe guter Freund, ein Mitbewohner, der mich seit etlichen Jahren begleitet hat.
Dabei hätte ich gewarnt sein müssen. Sein Stehvermögen ließ schon seit Jahren zu wünschen übrig. Konnte er in seiner Jugendblüte sieben-, acht-, ja – zehnmal, so reichte es zuletzt nicht mehr für eine einzige Dreiminutennummer.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Rede ist von meinem Trockenrasierer, der in die Jahre gekommen war. Sicher, ich hatte ihm regelmäßig eine neue Scherfolie gegönnt und von Zeit zu Zeit sogar den sündhaft teuren Messerblock ersetzt, aber die Kraft der Jugend hatten seine Akkus längst verloren. Nur mit 220 Volt kam er noch über die Runden – Viagra für müde Rasierer gewissermaßen – aber das störte mich nicht, denn ich pflege beim Rasieren nicht durchs Haus zu wandern. Ein drahtloses Telefon ist mir Mobilität genug. Und auf seine Art war der Uralt-Braun eine ehrliche Haut, die auf modischen Schnickschnack verzichtete. Er brauchte keine digitale Ladestandsanzeige mit wetterabhängiger Restlaufzeitprognose. Wenn ihm der Saft ausging, ließ er es mich wissen, in dem er langsamer lief und irgendwann stehenblieb – auch wenn dabei gerade eine Stoppel in der Mechanik klemmte. So lernte ich, seine leisen Signale zu deuten. So wächst Freundschaft. Männerfreundschaft, wie sie Frauen beim Wachspeeling nie erleben werden.
Hätte man nicht etwas gegen die zunehmenden Alterserscheinungen tun können, wird nun der eine oder andere Leser meines kleinen Tagebuches fragen. Ich habe es ja versucht. Habe den Rasierer, als die Potenzschwäche deutlich wurde, eingehend visitiert, habe ihm den alternden, aber noch immer straffen Leib geöffnet und stieß dort auf Spuren fiesester Ingenieurskunst, gepaart mit der dunkelsten Seite asiatischer Fingerfertigkeit. Die Akkus sind zwar vom Standardmaß, jedoch so gründlich verlötet und so kunstvoll mit weiteren lebenswichtigen Eingeweiden umbaut, dass eine Operation zum Zwecke der Wiederherstellung einstiger Vitalität die Existenz des Patienten in Frage gestellt hätte.
Also handelte ich wie ein verantwortungsvoller Arzt: Ich machte wieder zu und fand im Netzbetrieb eine Lösung, die den Patienten zwar nicht heilte, ihm jedoch ein würdevolles Altern ermöglichte.
Bis – ja, bis vor einigen Tagen mit dem eingebauten Netzteil ein lebenswichtiges Organ seinen Dienst quittierte und den beinahe-Freund an Altersschwäche starb. Er war über Nacht friedlich eingeschlafen. Als ich ihn am Morgen zum Dienst rief, blieb das vertraute Brummen aus. Ich habe daraufhin in meinem Sammelsurium nicht wegzuwerfender alter Dinge gestöbert, dort einen vor mehr als einem Jahrzehnt aus der Mode gekommenen Gilette-Rasierer entdeckt und schabe mir die Stoppeln nun wieder „nass“ aus dem Gesicht. Ich denke, mein alter, brummender Trockenrasierer hätte es so gewollt.
In Trauer
ad

PS.: Ganz habe ich meinen verblichenen Freund noch nicht aufgegeben. Ich werde ihn demnächst einem umfangreichen Eingriff unterziehen. Jetzt, wo ich um seinen körperlichen Fortbestand nicht mehr bangen muss, werde ich es wagen, in sein Innerstes vorzudringen. Die Leser dieses kleinen Tagebuches werden die ersten sein, die ich über den Ausgang dieses letzten Rettungsversuches informiere.

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