Freitag, 9. Oktober 2009
120 Zentner Briketts am 9. Oktober 1989. Oder: Etwas andere Gedanken zur Revolution
9. Oktober. Vor 20 Jahren wurde in Leipzig Geschichte geschrieben, die Medien quellen heute über von zum Teil kaum erträglichen Betroffenheitsdarstellungen und Pseudoanalysen. Besonders lesensunwert sind für mich die geistigen Ergüsse all der nachträglich Dabeigewesenen. Selbst ein stadtbildverhunzender Bilderbuntmaler, seinerzeit immerhin schon 20 Jahre alt, fühlt sich heute berufen, Schüler über die DDR aufzuklären.
Machte sich ein emsiger Buchhalter die Mühe, alle „Hier“-Rufe echter und vermeintlicher Revolutionäre zu summieren, würde er wohl zu dem Schluss gelangen, dass am 9. Oktober 1989 nicht 70.000, sondern mindestens 100.000 Menschen auf dem Leipziger Ring demonstrierten. Und dass, obwohl mindestens 68.000 der tatsächlich beteiligten Demonstranten heute nicht mehr über das Thema reden, weil sie sich entweder in ihrem neuen Leben eingerichtet haben oder aber, weil ihnen genau das gründlich misslungen ist.
Da habe ich es gut: Ich war am 9. Oktober 1989 nicht dabei. Sicher, auch ich musste mir grimmige Blicke meines Chefs gefallen lassen, der mich wegen meines an diesem Tag sehr frühen Feierabends zur Rede stellte, mit meiner Antwort nicht zufrieden war und mir – auch dank der einen und der anderen frechen Äußerung – Konsequenzen in Aussicht stellte. Warum sollte ein Prof. mir auch glauben, dass mich an einem so besonderen Tag, an dem die Stimmung knisterte, 120 Zentner Kohlen zum verfrühten Verschwinden veranlasst hatten?
Aber so war es halt: Auf dem Bürgersteig lagen sechs Tonnen Braunkohlenbriketts. Sie lagen dort, weil der Kohlenhändler sie abgekippt hatte, denn mein Keller ging „nach hinten“ – und 120 Zentner Kohlen durch einen engen Gang dorthin zu tragen, das konnte man einem jungen Wissenschaftler zumuten, aber auf keinem Fall einem sozialistischen Werktätigen.
Auch wenn’s aus heutiger Sicht so manchem Leser meines kleinen, politisch nicht immer korrekten Tagebuches unverständlich erscheinen mag: Die bescheidene Freiheit, im Winter eine zumindest nicht ganz kalte Bude zu haben war mir wichtiger, als die große Freiheit auf dem Leipziger Ring.
Um noch mal auf die Berichte und Analysen tatsächlicher oder vermeintlicher Zeitzeugen zu kommen. Unter all dem zumeist verquasten Geschreibsel ist mir ein Artikel von Wolfgang Kleinwächter (http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31019/1.html) sehr positiv aufgefallen. Da schreibt einer, der mit dem Auftrag „dabei“ war, in der Nikolaikirche einen Platz zu blockieren, sehr lesenswerte Gedanken. Bei Kleinwächters Beschreibung des selbst angesichts des Leipziger Stasi-Hauptquartiers friedlich gebliebenen Demonstrationszuges gab mir vor allem ein Satz zu denken: „Hätte es damals einen ‚schwarzen Block’ gegeben, die Weltgeschichte wäre anders verlaufen.“
Darüber lohnt es sich nachzudenken.

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