Dienstag, 24. Juni 2008
Vom Rennsteig in den Knast ... oder: Doppeldecker im Mai oder : Rundenlaufen in Darmstadt reloaded
zeitungsdieb, 10:49h
Bei der Planung für Mitte Mai stand mal wieder eine Entscheidung an. Ein Wochenende – zwei Läufe. Am Sonnabend steht der Rennsteiglauf im Kalender, am Sonntag erlebt der Darmstädter Knastmarathon seine zweite Auflage. Zwar hatte ich mir im vergangenen Jahr geschworen, den Rennsteiglauf links liegen zu lassen (damals war mir in Schmiedefeld ein Fähnlein arg alkoholisierter Feuerwehrpimpfe am Vorabend des Laufes mächtig auf die Nerven gegangen), aber so richtig ernst war das nicht gemeint: Rennsteig ist schließlich Rennsteig – wer will da schon fehlen. Und von ein paar verbutteten Eingeborenen lasse ich mir ja nicht den Rennsteiglauf vermiesen …
Aber auch die Vorjahrespremiere des Knastmarathons war eine tolle Veranstaltung, deren Wiederholung ich mir fest vorgenommen hatte. Runden drehen auf der gut 1700 Meter langen Runde im Darmstädter Knast, dazu Fünf-Sterne-Organisation und eine Menge Eindrücke – auch darauf wollte ich nicht verzichten.
Warum auch? Schließlich fanden beide Läufe nicht zeitgleich, sondern nur am selben Wochenende statt. Ein Doppel bot sich also an. Und da mit Ralph Hermsdorf ein weiterer Läufer aus den Reihen des LC Auensee Ambitionen auf ein abwechslungsreiches Laufwochenende angemeldet hatte, war das Doppel schon frühzeitig beschlossen und die Anmeldung für beide Läufe nur noch eine Formsache.
Meine Anfahrt zum Rennsteiglauf war in den vergangenen Jahren immer mit einigem Stress verbunden: Zunächst reiste ich freitags nach Eisenach, holte dort meine Startnummer ab und lauerte im Festzelt auf den Beginn der Kloßparty. Einigermaßen gesättigt düste ich anschließend nach Schmiedefeld, um am nächsten Morgen per Bus wieder zum Start nach Eisenach zu rollen.
Aber mal ehrlich: Die nach Fabrik schmeckenden Kloßpartyklöße und das ganze Drumherum sind nicht so überwältigend, dass sich der ganze Aufwand lohnt. Also verzichtete ich in diesem Jahr auf den fragwürdigen Kloßgenuss und fuhr gleich nach Schmiedefeld. Das Feuerwehrjungvolk an der Parkplatzzufahrt gab sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zivilisiert, ich parkte mein rollendes Nachtlager, richtete Isomatte und Schlafsack her und schlenderte gemütlich zum Bratwurststand, um mir den Bauch vollzuschlagen. Auf dem Weg zum Festzelt stieß ich auf gute Bekannte: Die Münchberger Mafia wollte bei Bratwurst und Bier ebenfalls noch ein wenig Rennsteiglaufvorfreude erleben. Fröhlich war’s, doch dass erwachsene Franken freiwillig alkoholfreies Bier trinken, ließ mich doch ein wenig zweifeln. Strafverschärfend kam hinzu, dass es sich dabei um die wirklich ungenießbare Plörre einer Großbrauerei handelte, deren Name auch auf dem Nummernschild des Herkunftsortes zu lesen ist. Für mich bitte kein Bit …
Nach dreifacher Bratwurst und einer angemessenen Menge nichtalkoholfreien Gerstensaftes trollte ich mich, um mich in meinen Schlafsack einzuwickeln. Erfreulicherweise hielt sich die Geräuschentwicklung im Festzelt in Grenzen, sodass ich meine kurze Nachtruhe schlafend verbringen konnte.
Kurz vor drei meldete mein Telefon das Ende der Nachtruhe. Umziehen im Auto, schnell die in der heimischen Küche vorproduzierten belegten Brote (eigentlich heißt diese Speise auf gut Sächsisch ja „Bemmen“) gegriffen, im Vorbeigehen noch eine wegen zu großer Frühe wenig erfolgreiche sanitäre Erledigung versucht und hurtigen Schrittes auf den Weg zum Bus nach Eisenach gemacht. Wohlige Wärme, angenehme Ruhe (der in nervender Lautstärke über seine Heldentaten berichtende Berliner, den ich bereits einige Male live erleben durfte, hatte entweder einen anderen Bus genommen oder war von frustrierten Mitfahrern erschlagen worden) und einschläfernde Schaukelei – die Fahrt war ein Genuss.
Die Startnummernausgabe in Eisenach klappte am neuen Standort reibungslos. Dass ich dort auch das obligatorische Funktions-Shirt erhielt, überraschte mich. Schade, der Rennsteiglauf zählte bislang zu den wenigen Veranstaltungen mit einem echten Finisher-Shirt. Nun ist auch er in die Liga der „Startnummernabholshirt-Läufe“ abgestiegen. Immerhin hatte es mit „M wie mickrig“ die richtige Größe, wenig später haperte es an S und M, statt dessen waren nur noch läuferuntypische Familienzelte im Angebot.
Angesichts der morgendlichen Kühle ein wenig bibbernd, reihte ich mich in das Heer der auf den Start wartenden Läufer ein. Auf dem Eisenacher Markt sah ich viele bekannte Gesichter, noch mehr Bekannte begrüßten mich.
Hubschraubergeknatter, Politikergebrabbel, Glockenschlagsgescheppere – Schlag sechs setzte sich das Feld der rund 1800 Läufer in Bewegung. Im Wissen um mein sonntägliches Vorhaben hatte ich mich weit hinten eingeordnet und ließ den Lauf ruhig angehen.
Der Läuferlindwurm ringelte sich durch Eisenach, kurz vor dem Verlassen des Städtchens sorgte Holgers Plakat „Noch 72 km bis Schmiedefeld“ für Erinnerungen an den Hoyerswerdaer 24-h-Lauf.
Gemütlich machte ich mich „hinauf“ in Richtung Sonne, die heute hinter Wolken verborgen blieb. Da ich im langsameren Feld unterwegs war, gab es hier und da Anlass zum Wandern, wollte ich nicht kräftezehrende Überholmanöver riskieren.
Relativ gelassen hangelte ich mich von VP zu VP und nahm mit, was es so gab: Brote mit Schnittlauch und Fett, Würstchen, Knacker – genau das liebe ich am RSL so. Und konnte es heute mehr als in den vergangenen Jahren genießen, denn die Uhr am Handgelenk war eher Zierde denn mahnender Antreiber.
Bei Kilometer 10 gab’s eine Premiere: Ich sah zum ersten Mal einen Läufer, der seine Ortskenntnis ausnutzte, um eine Abkürzung zu wählen und Höhenmeter zu sparen. Ein Forstweg half ihm dabei, einen Anstieg zu umgehen und die Strecke ein wenig zeitsparend zu absolvieren. Erst glaubte ich an einen Irrtum, doch einige Kilometer weiter hatte ich den Betrüger wieder eingeholt und dank seines auffälligen Laufshirts erkannt. Na, wenn er meint.
Apropos T-Shirt: Irgendwo im Bereich des Inselsberges lief ich auf ein hochgewachsenes Paar auf, dessen Shirts sie als Mitglieder des „16 Summits Teams“ auswiesen. Wir überholten einander mehrfach und als ich nach einer betriebsnotwendigen Entsorgungspause wieder einmal am Überholen war, machte ich meiner Neugierde Luft und fragte nach den 16 Gipfeln, die die beiden erklommen hatten. Die Antwort ließ mich lange schmunzeln: Es waren nicht die Sechs- oder Achttausender dieser Welt, sondern die jeweils höchsten Erhebungen der deutschen Bundesländern. Auch in Hamburg? Auch in Hamburg!
Recht kurzweilig überwand ich Kilometer um Kilometer, trotzte einem etwa einstündigen Regenguss, aß den Wanderern sogar die Knacker weg und überwand Berg um Berg. In meinem Bauch machten zwar von Zeit zu Zeit die drei vorabendlichen Bratwürste auf sich aufmerksam, aber im Fall der Fälle kann man mit Ignoranz viele Probleme lösen.
Glaubte ich zumindest, bis mir wenige Meter vor dem VP Schmücke ein Blitz ins Gedärm zu fahren schien. Sämtliche Muskeln – insbesondere die im Umfeld des rückwärtigen Ausganges – anspannend, schoss ich am VP vorbei, rettete ich mich bis in Schmücke-Restaurant, stürmte in die Toilette und konnte nun die Gefühle der Seefahrer nachvollziehen, die es mit ihrem Windjammer aus einem Taifun in den rettenden Hafen geschafft hatten.
Raus aus der Hütte, einige Meter zum VP zurückgelaufen, nachgeladen und die letzten Kilometer in Richtung Schmiedefeld in Angriff genommen.
Die letzten ekligen Anstiege – insbesondere den vor der zielnahen Getränkestation – überwand ich relativ ehrgeizfrei im hurtigen Wanderschritt. Nun noch einmal hinunter, noch einige Meter durch die rückwärtige Schönheit der Schmiedefelder Gartenanlagen und das Ziel lag vor mir. Ein kleiner Endspurt, die Uhr blieb bei 7:23 h stehen, Medaille in Empfang genommen – geschafft.
Ein Glückwunsch hier, ein Schwatz dort, erstaunlich leidensfrei den Kleiderbeutel abgeholt, ein Bier eingefüllt und in Richtung Auto abmarschiert. Kurze Verrenkungen auf dem Schlafsack beim Ausziehen, schnell zum Duschen und in diesem Jahr sogar ein Quäntchen Warmwasser erwischt, Feierabend!
Bei Bratwurst und natürlich Bier nahm ich die Regeneration in Angriff. Nach einer Stunde im Festzelt fuhren Ralph Hermsdorf und ich auf verschlungenen Pfaden ins Schmiedefelder Tal hinab und bezogen in einem abgewrackten DDR-Ferienheim unser spartanisches Nachquartier. Nach einigem Hin und Her – der dortige Isomattenschläferabkassierer war ob unserer Schlafvariante „Massenquartier ohne Frühstück“ eindeutig überfordert – war das Lager auf dem nackten Beton eines ehemaligen Speisesaals gerichtet.
Während andere Läufer sich nach der Herausforderung RSL zur Ruhe betteten, zogen wir wieder hinauf ins Zielgelände, um noch einige Stunden im Festzelt zu verbringen.
Es war ein Fehler. Deutsche Schlager in unvorstellbarer Lautstärke, ausflippende Menschen, grölende Tischtänzer und eine beängstigende Enge ließen mich die erste Chance zum Verlassen des Zeltes nutzen. Draußen schmeckte das Bier doch eindeutig besser. Und reden – z.B. mit „Schneggi“ ließ es sich gleichfalls angenehmer. Auch Ralph Hermsdorf sah das so – bei Bier, Kuchen und Fischbrötchen ließen wir den Abend ausklingen und landeten gegen 22 Uhr im Nachtquartier.
Gegen 5 Uhr beendeten die quäkenden und klingelnden Handys die Nacht. Keine 20 Minuten später rollten wir bereits gen Darmstadt. Unterwegs auf halber Strecke schnell noch ein Truck-Stop-Frühstück eingeworfen, erreichten wir gegen 9 Uhr die JVA Darmstadt.
Dort staute sich bereits ein ganzer Schwarm aufgekratzter Läufer beim Checkin. Ausweise abgeben, Taschen inspizieren lassen, ein leuchtendgrünes Bändchen ans Handgelenk. Letzteres gab es bei der Premiere des Knastmarathons im Vorjahr noch nicht. Das grüne Bändchen diente der leichteren Erfassung der „Externen“ und sollte beim Verlassen des Geländes für schnellere Abfertigung sorgen. Mit einem seltsamen Gefühl hörten wir den Rat, das Bändchen nicht beim Umziehen oder Duschen versehentlich zu entfernen …
In der JVA herrschte bereits die hektische Betriebsamkeit, die typisch für die letzte Stunde vor dem Start eines Marathons ist. Aber es gab auch Unterschiede: Wer sich umgezogen hatte, packte seine Sachen samt Sporttasche in einen Kleidersack, der durchaus Ähnlichkeit mit einem Leichensack aufwies. In diesem Behälter landeten auch das schwarze Knastmarathon-Basecap und das Knast-Shirt, ehe der „Leichensack“ hinter dicken Gittern in Sicherheitsverwahrung genommen wurde.
Eine weitere Besonderheit das Knastlaufes besteht in der 5-Sterne-Verpflegung, die die Läufer hier schon „davor“ genießen können. Wohlgesättigt gingen wir an den Start, hörten uns letzte Hinweise zur Strecke an, dann erklang das Startsignal und mehr als 100 Läufer – darunter auch –innen – machten sich auf den Weg. Dieser Weg ist recht übersichtlich, denn der Darmstädter Knastmarathon führt über eine rund 1,7 Kilometer lange Runde innerhalb der JVA Darmstadt.
Die Laufstrecke ist praktisch frei von Höhenunterschieden, aber nicht wirklich „schnell“: Schließlich gilt es, auf der Runde einige 90-Grad-Kurven sowie eine enge und eine etwas weitere Kehre zu durchlaufen. Wer etwas zügiger unterwegs sein möchte, muss in jeder Runde mehrmals abbremsen und wieder beschleunigen – das kostet Kraft. Vor allem wenn man berücksichtigt, dass 24 Runden zu absolvieren sind. Dass dennoch gute Zeiten möglich sind, bewiesen Manfred Scherer und Dirk Karl, die den Marathon in 2:53:06h bzw. 2:57:06h abspulten. Nur knapp über der 3-Stunden-Marke lief Charlie Knöpfle (3:01:12h) durchs Ziel.
Doch für Ralph und mich waren die Zeiten am 18. Mai sekundär – schließlich hatten wir vom Vortag noch den Rennsteiglauf in den Beinen. Waren wir diesen auch nicht am Limit gelaufen, so sind 72 Kilometer doch eine Strecke, die man nicht nebenbei absolviert.
Dennoch lief es in Darmstadt erstaunlich gut. Ich ging die erste Runde verhalten an und spürte mit großer Erleichterung, dass meine Beine erstaunlich locker zur Sache gingen. Nach etwa einem Kilometer war in den Muskeln kaum noch etwas vom Rennsteig zu spüren, irgendwelche sonstigen Zipperlein in Bändern und Gelenken hatte ich auch nicht. Also war ich meine guten Vorsätze vom Sonntagsschonlauf über Bord und legte den angenehm zu laufenden „Knapp-unter-5er-Schnitt“-Gang ein.
Dieses Tempo lief sich angenehm, ich genoss die von Runde zu Runde immer wieder abwechslungsreiche Strecke. Das ist kein Ulk – die Knastrunde läuft sich wirklich kurzweilig, denn ihr Nachteil ist zugleich ihr größtes Plus: Man kann sich von Kurve zu Kurve hangeln, weiß irgendwann, dass nach der Kehre der Ausflug in den Werkstatthof ansteht, danach die Begegnungsstrecke mit dem Bad in der Zuschauermenge, alsdann folgen Zählmatte, Kurve, Kehre, Verpflegung und wieder das Bad in der Menge ... Da ist es schon deutlich härter, an einem Frühjahrssonntagsmorgen in Leipzig beim Marathon auf einsamen Geraden ohne Zuschauer durch die Stadt und ihre Vororte zu traben.
Zusätzliche Abwechslung erzeugten zudem einige Einradfahrer, die auf der „Hofrunde“ ebenfalls einen Marathon absolvierten. Als ich das hörte, war mein erster Gedanke „Was soll der Unfug, 42 km auf dem Fahrrad sind doch kein Marathon …“ Aber als ich die akrobatischen Verrenkungen sah, mit denen sich die Einradler auf ihren Sportgeräten über die Runden kurbelten, empfand ich Hochachtung. Und wie die Einradler um die Kurven und die krönende Spitzkehre zirkelten, das verdiente schon Respekt.
Seinen besonderen Reiz bezieht der Knastmarathon für die „Externen“ jedoch aus den „Internen“ auf der Strecke und am Rand der Piste. Hier gibt es viel zu Gucken und auch so manches Wort zu wechseln. Auf 42 Kilometern hat man halt Zeit, sich über diesen oder jenen Eindruck seine Gedanken zu machen.
Wie zum Beispiel über die beiden „internen“ Läufer – einen schlanken Riesen und einen eher kompakten „Kurzen“ –, die gemeinsam Runde um Runde abspulten und überglücklich ins Ziel kamen. Filmreif war für mich eine „interne“ Dreiergruppe, deren recht junge Mitglieder dem Augenschein nach aus südlicheren Gefilden stammten. Ein Türke war darunter, die anderen beiden konnte ich nicht zuordnen … war vielleicht ein Iraner dabei? Unwichtig! Das Trio nutzte die deutsche Sprache als gemeinsamen Nenner. Aber auf welche Weise! In filmreifem „Kanakisch“ sprachen sich die Läufer gegenseitig Mut zu, um die Strecke zu meistern. Die folgende Szene ist keine Erfindung, ich schwör’s: Ein Läufer klagte den anderen sein Leid. „Ey, mir is nich gut. Ist schlecht.“ Darauf ein anderer, mit der Hand auf eine Läuferin in knappem Outfit weisend, von der das schwächelnde Trio wenige Sekunden zuvor versägt worden war: „Ey, musst Du gucken auf geile Arsch, tut gut.“ Ein unbeschreibliches Maß an Beherrschung wurde mir abverlangt, um bei dieser Real-Comedy nicht loszulachen ...
So vergingen die Runden. Als davon das erste Dutzend geschafft war, brachte sich bei mir der Rennsteiglauf in Erinnerung. Ein leichter Kälteschauer machte mir deutlich, dass die trotz intensiven Biergenusses noch nicht wieder komplett aufgefüllten Kohlehydratreserven nun zur Neige gingen. Für mich war’s eine willkommene Gelegenheit, endlich einmal die fein ausgeklügelten Psychotricks zu testen. Ohne ins Detail zu gehen: Ich sage nur „Mantra“ – es funktioniert.
Meine Rundenzeiten blieben fast konstant, ich lief weiterhin mit reichlich 12 km/h durch die nun doch schon etwas vertrauter anmutende Landschaft. Allerdings schränkte ich meine Wahrnehmung doch deutlich ein und „tunnelte“ über die Strecke. In der 18. Runde regneten plötzlich kleine Leuchtsterne vom Himmel. Da die anderen Läufer dieses Naturereignis offensichtlich nicht wahrnahmen, musste es sich um ein neuerliches Warnsignal aus meinem Maschinenraum handeln. Ich legte nun den einen oder anderen Boxenstopp ein, nahm Cola und Kuchen zu mir und die Sterne verschwanden wieder. Leider machte es der mit Puderzucker bestreute Kuchen erforderlich, nach dem Verpflegungsstand einige Gehschritte einzulegen, wollte ich keine Staublunge riskieren. Meine 12 km/h hielt ich dennoch und kam nach 3:23 als 12. ins Ziel, wie so oft war ich, Unvernunft lässt grüßen, deutlich schneller als geplant unterwegs gewesen. Zur Belohnung gab es eine wirklich tolle Finisher-Medaille mit einer Außenansicht der JVA bei halb geöffnetem Tor. Im Vorjahr war das Tor noch "dicht" gewesen.
Nach dem Lauf setzte sich die 5-Sterne-Beköstigung fort, wer es wollte, konnte in Darmstadt trotz des Marathons deutlich „Gewicht machen“, sprich: zulegen. Abschließender Höhepunkt des Laufes war die Siegerehrung. Bis zu deren Beginn war ein wenig Geduld erforderlich, denn da es sich um einen Knast-Marathon handelte, mussten zunächst die „Internen“ auf Vollzähligkeit geprüft werden. Bei der sehr stimmungsvollen Abschlussveranstaltung wurden nicht nur die Schnellsten geehrt, sondern auch Preise verlost und die Leistungen der „Internen“ gewürdigt. So manchem dieser durchaus hartgesottenen Burschen war die Rührung durchaus anzumerken. Ein Ausspruch des Leiters der JVA wird mir wohl lange in Erinnerung bleiben. Der Knastchef hatte die „Internen“ bei einem Briefing wenige Tage vor dem Lauf motivieren wollen und ihnen die Worte „Sie können heute fast alles kaufen, sogar einen Flug ins All. Aber einen Marathon können Sie nicht kaufen, den müssen sie selbst laufen“ mit auf den Weg gegeben. Kluge Worte – und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass die Teilnahme am Marathonprojekt des SV Kiefer Darmstadt bei so manchem „Internen“ einiges bewegt hat.
Bliebe noch zu erwähnen, dass der Darmstädter Knastmarathon eine der am besten organisierten Laufveranstaltungen ist, die ich je erlebt habe. Sowohl Insassen als auch Mitarbeiter der JVA (und deren Angehörige) ackern nach Kräften, um diesen Lauf zu einem Erfolg werden zu lassen. Die Startgebühr von 10 Euro ist praktisch „geschenkt“ und nur möglich, weil Sponsoren aus der Region das Projekt unterstützen.
Achja, wer nun im kommenden Jahr auch mit dabei sein möchte, kann auf eine Wiederholung des Laufes zählen. Nach dem Erfolg von Premiere und zweiter Auflage ist die schon beschlossene Sache. Ich werde wohl auch wieder auf der Startliste stehen. Sogar dann, wenn am Tag zuvor kein Rennsteiglauf sein sollte. Es gibt ja noch andere Veranstaltungen, um einen Doppeldecker zu organisieren.
Aber auch die Vorjahrespremiere des Knastmarathons war eine tolle Veranstaltung, deren Wiederholung ich mir fest vorgenommen hatte. Runden drehen auf der gut 1700 Meter langen Runde im Darmstädter Knast, dazu Fünf-Sterne-Organisation und eine Menge Eindrücke – auch darauf wollte ich nicht verzichten.
Warum auch? Schließlich fanden beide Läufe nicht zeitgleich, sondern nur am selben Wochenende statt. Ein Doppel bot sich also an. Und da mit Ralph Hermsdorf ein weiterer Läufer aus den Reihen des LC Auensee Ambitionen auf ein abwechslungsreiches Laufwochenende angemeldet hatte, war das Doppel schon frühzeitig beschlossen und die Anmeldung für beide Läufe nur noch eine Formsache.
Meine Anfahrt zum Rennsteiglauf war in den vergangenen Jahren immer mit einigem Stress verbunden: Zunächst reiste ich freitags nach Eisenach, holte dort meine Startnummer ab und lauerte im Festzelt auf den Beginn der Kloßparty. Einigermaßen gesättigt düste ich anschließend nach Schmiedefeld, um am nächsten Morgen per Bus wieder zum Start nach Eisenach zu rollen.
Aber mal ehrlich: Die nach Fabrik schmeckenden Kloßpartyklöße und das ganze Drumherum sind nicht so überwältigend, dass sich der ganze Aufwand lohnt. Also verzichtete ich in diesem Jahr auf den fragwürdigen Kloßgenuss und fuhr gleich nach Schmiedefeld. Das Feuerwehrjungvolk an der Parkplatzzufahrt gab sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zivilisiert, ich parkte mein rollendes Nachtlager, richtete Isomatte und Schlafsack her und schlenderte gemütlich zum Bratwurststand, um mir den Bauch vollzuschlagen. Auf dem Weg zum Festzelt stieß ich auf gute Bekannte: Die Münchberger Mafia wollte bei Bratwurst und Bier ebenfalls noch ein wenig Rennsteiglaufvorfreude erleben. Fröhlich war’s, doch dass erwachsene Franken freiwillig alkoholfreies Bier trinken, ließ mich doch ein wenig zweifeln. Strafverschärfend kam hinzu, dass es sich dabei um die wirklich ungenießbare Plörre einer Großbrauerei handelte, deren Name auch auf dem Nummernschild des Herkunftsortes zu lesen ist. Für mich bitte kein Bit …
Nach dreifacher Bratwurst und einer angemessenen Menge nichtalkoholfreien Gerstensaftes trollte ich mich, um mich in meinen Schlafsack einzuwickeln. Erfreulicherweise hielt sich die Geräuschentwicklung im Festzelt in Grenzen, sodass ich meine kurze Nachtruhe schlafend verbringen konnte.
Kurz vor drei meldete mein Telefon das Ende der Nachtruhe. Umziehen im Auto, schnell die in der heimischen Küche vorproduzierten belegten Brote (eigentlich heißt diese Speise auf gut Sächsisch ja „Bemmen“) gegriffen, im Vorbeigehen noch eine wegen zu großer Frühe wenig erfolgreiche sanitäre Erledigung versucht und hurtigen Schrittes auf den Weg zum Bus nach Eisenach gemacht. Wohlige Wärme, angenehme Ruhe (der in nervender Lautstärke über seine Heldentaten berichtende Berliner, den ich bereits einige Male live erleben durfte, hatte entweder einen anderen Bus genommen oder war von frustrierten Mitfahrern erschlagen worden) und einschläfernde Schaukelei – die Fahrt war ein Genuss.
Die Startnummernausgabe in Eisenach klappte am neuen Standort reibungslos. Dass ich dort auch das obligatorische Funktions-Shirt erhielt, überraschte mich. Schade, der Rennsteiglauf zählte bislang zu den wenigen Veranstaltungen mit einem echten Finisher-Shirt. Nun ist auch er in die Liga der „Startnummernabholshirt-Läufe“ abgestiegen. Immerhin hatte es mit „M wie mickrig“ die richtige Größe, wenig später haperte es an S und M, statt dessen waren nur noch läuferuntypische Familienzelte im Angebot.
Angesichts der morgendlichen Kühle ein wenig bibbernd, reihte ich mich in das Heer der auf den Start wartenden Läufer ein. Auf dem Eisenacher Markt sah ich viele bekannte Gesichter, noch mehr Bekannte begrüßten mich.
Hubschraubergeknatter, Politikergebrabbel, Glockenschlagsgescheppere – Schlag sechs setzte sich das Feld der rund 1800 Läufer in Bewegung. Im Wissen um mein sonntägliches Vorhaben hatte ich mich weit hinten eingeordnet und ließ den Lauf ruhig angehen.
Der Läuferlindwurm ringelte sich durch Eisenach, kurz vor dem Verlassen des Städtchens sorgte Holgers Plakat „Noch 72 km bis Schmiedefeld“ für Erinnerungen an den Hoyerswerdaer 24-h-Lauf.
Gemütlich machte ich mich „hinauf“ in Richtung Sonne, die heute hinter Wolken verborgen blieb. Da ich im langsameren Feld unterwegs war, gab es hier und da Anlass zum Wandern, wollte ich nicht kräftezehrende Überholmanöver riskieren.
Relativ gelassen hangelte ich mich von VP zu VP und nahm mit, was es so gab: Brote mit Schnittlauch und Fett, Würstchen, Knacker – genau das liebe ich am RSL so. Und konnte es heute mehr als in den vergangenen Jahren genießen, denn die Uhr am Handgelenk war eher Zierde denn mahnender Antreiber.
Bei Kilometer 10 gab’s eine Premiere: Ich sah zum ersten Mal einen Läufer, der seine Ortskenntnis ausnutzte, um eine Abkürzung zu wählen und Höhenmeter zu sparen. Ein Forstweg half ihm dabei, einen Anstieg zu umgehen und die Strecke ein wenig zeitsparend zu absolvieren. Erst glaubte ich an einen Irrtum, doch einige Kilometer weiter hatte ich den Betrüger wieder eingeholt und dank seines auffälligen Laufshirts erkannt. Na, wenn er meint.
Apropos T-Shirt: Irgendwo im Bereich des Inselsberges lief ich auf ein hochgewachsenes Paar auf, dessen Shirts sie als Mitglieder des „16 Summits Teams“ auswiesen. Wir überholten einander mehrfach und als ich nach einer betriebsnotwendigen Entsorgungspause wieder einmal am Überholen war, machte ich meiner Neugierde Luft und fragte nach den 16 Gipfeln, die die beiden erklommen hatten. Die Antwort ließ mich lange schmunzeln: Es waren nicht die Sechs- oder Achttausender dieser Welt, sondern die jeweils höchsten Erhebungen der deutschen Bundesländern. Auch in Hamburg? Auch in Hamburg!
Recht kurzweilig überwand ich Kilometer um Kilometer, trotzte einem etwa einstündigen Regenguss, aß den Wanderern sogar die Knacker weg und überwand Berg um Berg. In meinem Bauch machten zwar von Zeit zu Zeit die drei vorabendlichen Bratwürste auf sich aufmerksam, aber im Fall der Fälle kann man mit Ignoranz viele Probleme lösen.
Glaubte ich zumindest, bis mir wenige Meter vor dem VP Schmücke ein Blitz ins Gedärm zu fahren schien. Sämtliche Muskeln – insbesondere die im Umfeld des rückwärtigen Ausganges – anspannend, schoss ich am VP vorbei, rettete ich mich bis in Schmücke-Restaurant, stürmte in die Toilette und konnte nun die Gefühle der Seefahrer nachvollziehen, die es mit ihrem Windjammer aus einem Taifun in den rettenden Hafen geschafft hatten.
Raus aus der Hütte, einige Meter zum VP zurückgelaufen, nachgeladen und die letzten Kilometer in Richtung Schmiedefeld in Angriff genommen.
Die letzten ekligen Anstiege – insbesondere den vor der zielnahen Getränkestation – überwand ich relativ ehrgeizfrei im hurtigen Wanderschritt. Nun noch einmal hinunter, noch einige Meter durch die rückwärtige Schönheit der Schmiedefelder Gartenanlagen und das Ziel lag vor mir. Ein kleiner Endspurt, die Uhr blieb bei 7:23 h stehen, Medaille in Empfang genommen – geschafft.
Ein Glückwunsch hier, ein Schwatz dort, erstaunlich leidensfrei den Kleiderbeutel abgeholt, ein Bier eingefüllt und in Richtung Auto abmarschiert. Kurze Verrenkungen auf dem Schlafsack beim Ausziehen, schnell zum Duschen und in diesem Jahr sogar ein Quäntchen Warmwasser erwischt, Feierabend!
Bei Bratwurst und natürlich Bier nahm ich die Regeneration in Angriff. Nach einer Stunde im Festzelt fuhren Ralph Hermsdorf und ich auf verschlungenen Pfaden ins Schmiedefelder Tal hinab und bezogen in einem abgewrackten DDR-Ferienheim unser spartanisches Nachquartier. Nach einigem Hin und Her – der dortige Isomattenschläferabkassierer war ob unserer Schlafvariante „Massenquartier ohne Frühstück“ eindeutig überfordert – war das Lager auf dem nackten Beton eines ehemaligen Speisesaals gerichtet.
Während andere Läufer sich nach der Herausforderung RSL zur Ruhe betteten, zogen wir wieder hinauf ins Zielgelände, um noch einige Stunden im Festzelt zu verbringen.
Es war ein Fehler. Deutsche Schlager in unvorstellbarer Lautstärke, ausflippende Menschen, grölende Tischtänzer und eine beängstigende Enge ließen mich die erste Chance zum Verlassen des Zeltes nutzen. Draußen schmeckte das Bier doch eindeutig besser. Und reden – z.B. mit „Schneggi“ ließ es sich gleichfalls angenehmer. Auch Ralph Hermsdorf sah das so – bei Bier, Kuchen und Fischbrötchen ließen wir den Abend ausklingen und landeten gegen 22 Uhr im Nachtquartier.
Gegen 5 Uhr beendeten die quäkenden und klingelnden Handys die Nacht. Keine 20 Minuten später rollten wir bereits gen Darmstadt. Unterwegs auf halber Strecke schnell noch ein Truck-Stop-Frühstück eingeworfen, erreichten wir gegen 9 Uhr die JVA Darmstadt.
Dort staute sich bereits ein ganzer Schwarm aufgekratzter Läufer beim Checkin. Ausweise abgeben, Taschen inspizieren lassen, ein leuchtendgrünes Bändchen ans Handgelenk. Letzteres gab es bei der Premiere des Knastmarathons im Vorjahr noch nicht. Das grüne Bändchen diente der leichteren Erfassung der „Externen“ und sollte beim Verlassen des Geländes für schnellere Abfertigung sorgen. Mit einem seltsamen Gefühl hörten wir den Rat, das Bändchen nicht beim Umziehen oder Duschen versehentlich zu entfernen …
In der JVA herrschte bereits die hektische Betriebsamkeit, die typisch für die letzte Stunde vor dem Start eines Marathons ist. Aber es gab auch Unterschiede: Wer sich umgezogen hatte, packte seine Sachen samt Sporttasche in einen Kleidersack, der durchaus Ähnlichkeit mit einem Leichensack aufwies. In diesem Behälter landeten auch das schwarze Knastmarathon-Basecap und das Knast-Shirt, ehe der „Leichensack“ hinter dicken Gittern in Sicherheitsverwahrung genommen wurde.
Eine weitere Besonderheit das Knastlaufes besteht in der 5-Sterne-Verpflegung, die die Läufer hier schon „davor“ genießen können. Wohlgesättigt gingen wir an den Start, hörten uns letzte Hinweise zur Strecke an, dann erklang das Startsignal und mehr als 100 Läufer – darunter auch –innen – machten sich auf den Weg. Dieser Weg ist recht übersichtlich, denn der Darmstädter Knastmarathon führt über eine rund 1,7 Kilometer lange Runde innerhalb der JVA Darmstadt.
Die Laufstrecke ist praktisch frei von Höhenunterschieden, aber nicht wirklich „schnell“: Schließlich gilt es, auf der Runde einige 90-Grad-Kurven sowie eine enge und eine etwas weitere Kehre zu durchlaufen. Wer etwas zügiger unterwegs sein möchte, muss in jeder Runde mehrmals abbremsen und wieder beschleunigen – das kostet Kraft. Vor allem wenn man berücksichtigt, dass 24 Runden zu absolvieren sind. Dass dennoch gute Zeiten möglich sind, bewiesen Manfred Scherer und Dirk Karl, die den Marathon in 2:53:06h bzw. 2:57:06h abspulten. Nur knapp über der 3-Stunden-Marke lief Charlie Knöpfle (3:01:12h) durchs Ziel.
Doch für Ralph und mich waren die Zeiten am 18. Mai sekundär – schließlich hatten wir vom Vortag noch den Rennsteiglauf in den Beinen. Waren wir diesen auch nicht am Limit gelaufen, so sind 72 Kilometer doch eine Strecke, die man nicht nebenbei absolviert.
Dennoch lief es in Darmstadt erstaunlich gut. Ich ging die erste Runde verhalten an und spürte mit großer Erleichterung, dass meine Beine erstaunlich locker zur Sache gingen. Nach etwa einem Kilometer war in den Muskeln kaum noch etwas vom Rennsteig zu spüren, irgendwelche sonstigen Zipperlein in Bändern und Gelenken hatte ich auch nicht. Also war ich meine guten Vorsätze vom Sonntagsschonlauf über Bord und legte den angenehm zu laufenden „Knapp-unter-5er-Schnitt“-Gang ein.
Dieses Tempo lief sich angenehm, ich genoss die von Runde zu Runde immer wieder abwechslungsreiche Strecke. Das ist kein Ulk – die Knastrunde läuft sich wirklich kurzweilig, denn ihr Nachteil ist zugleich ihr größtes Plus: Man kann sich von Kurve zu Kurve hangeln, weiß irgendwann, dass nach der Kehre der Ausflug in den Werkstatthof ansteht, danach die Begegnungsstrecke mit dem Bad in der Zuschauermenge, alsdann folgen Zählmatte, Kurve, Kehre, Verpflegung und wieder das Bad in der Menge ... Da ist es schon deutlich härter, an einem Frühjahrssonntagsmorgen in Leipzig beim Marathon auf einsamen Geraden ohne Zuschauer durch die Stadt und ihre Vororte zu traben.
Zusätzliche Abwechslung erzeugten zudem einige Einradfahrer, die auf der „Hofrunde“ ebenfalls einen Marathon absolvierten. Als ich das hörte, war mein erster Gedanke „Was soll der Unfug, 42 km auf dem Fahrrad sind doch kein Marathon …“ Aber als ich die akrobatischen Verrenkungen sah, mit denen sich die Einradler auf ihren Sportgeräten über die Runden kurbelten, empfand ich Hochachtung. Und wie die Einradler um die Kurven und die krönende Spitzkehre zirkelten, das verdiente schon Respekt.
Seinen besonderen Reiz bezieht der Knastmarathon für die „Externen“ jedoch aus den „Internen“ auf der Strecke und am Rand der Piste. Hier gibt es viel zu Gucken und auch so manches Wort zu wechseln. Auf 42 Kilometern hat man halt Zeit, sich über diesen oder jenen Eindruck seine Gedanken zu machen.
Wie zum Beispiel über die beiden „internen“ Läufer – einen schlanken Riesen und einen eher kompakten „Kurzen“ –, die gemeinsam Runde um Runde abspulten und überglücklich ins Ziel kamen. Filmreif war für mich eine „interne“ Dreiergruppe, deren recht junge Mitglieder dem Augenschein nach aus südlicheren Gefilden stammten. Ein Türke war darunter, die anderen beiden konnte ich nicht zuordnen … war vielleicht ein Iraner dabei? Unwichtig! Das Trio nutzte die deutsche Sprache als gemeinsamen Nenner. Aber auf welche Weise! In filmreifem „Kanakisch“ sprachen sich die Läufer gegenseitig Mut zu, um die Strecke zu meistern. Die folgende Szene ist keine Erfindung, ich schwör’s: Ein Läufer klagte den anderen sein Leid. „Ey, mir is nich gut. Ist schlecht.“ Darauf ein anderer, mit der Hand auf eine Läuferin in knappem Outfit weisend, von der das schwächelnde Trio wenige Sekunden zuvor versägt worden war: „Ey, musst Du gucken auf geile Arsch, tut gut.“ Ein unbeschreibliches Maß an Beherrschung wurde mir abverlangt, um bei dieser Real-Comedy nicht loszulachen ...
So vergingen die Runden. Als davon das erste Dutzend geschafft war, brachte sich bei mir der Rennsteiglauf in Erinnerung. Ein leichter Kälteschauer machte mir deutlich, dass die trotz intensiven Biergenusses noch nicht wieder komplett aufgefüllten Kohlehydratreserven nun zur Neige gingen. Für mich war’s eine willkommene Gelegenheit, endlich einmal die fein ausgeklügelten Psychotricks zu testen. Ohne ins Detail zu gehen: Ich sage nur „Mantra“ – es funktioniert.
Meine Rundenzeiten blieben fast konstant, ich lief weiterhin mit reichlich 12 km/h durch die nun doch schon etwas vertrauter anmutende Landschaft. Allerdings schränkte ich meine Wahrnehmung doch deutlich ein und „tunnelte“ über die Strecke. In der 18. Runde regneten plötzlich kleine Leuchtsterne vom Himmel. Da die anderen Läufer dieses Naturereignis offensichtlich nicht wahrnahmen, musste es sich um ein neuerliches Warnsignal aus meinem Maschinenraum handeln. Ich legte nun den einen oder anderen Boxenstopp ein, nahm Cola und Kuchen zu mir und die Sterne verschwanden wieder. Leider machte es der mit Puderzucker bestreute Kuchen erforderlich, nach dem Verpflegungsstand einige Gehschritte einzulegen, wollte ich keine Staublunge riskieren. Meine 12 km/h hielt ich dennoch und kam nach 3:23 als 12. ins Ziel, wie so oft war ich, Unvernunft lässt grüßen, deutlich schneller als geplant unterwegs gewesen. Zur Belohnung gab es eine wirklich tolle Finisher-Medaille mit einer Außenansicht der JVA bei halb geöffnetem Tor. Im Vorjahr war das Tor noch "dicht" gewesen.
Nach dem Lauf setzte sich die 5-Sterne-Beköstigung fort, wer es wollte, konnte in Darmstadt trotz des Marathons deutlich „Gewicht machen“, sprich: zulegen. Abschließender Höhepunkt des Laufes war die Siegerehrung. Bis zu deren Beginn war ein wenig Geduld erforderlich, denn da es sich um einen Knast-Marathon handelte, mussten zunächst die „Internen“ auf Vollzähligkeit geprüft werden. Bei der sehr stimmungsvollen Abschlussveranstaltung wurden nicht nur die Schnellsten geehrt, sondern auch Preise verlost und die Leistungen der „Internen“ gewürdigt. So manchem dieser durchaus hartgesottenen Burschen war die Rührung durchaus anzumerken. Ein Ausspruch des Leiters der JVA wird mir wohl lange in Erinnerung bleiben. Der Knastchef hatte die „Internen“ bei einem Briefing wenige Tage vor dem Lauf motivieren wollen und ihnen die Worte „Sie können heute fast alles kaufen, sogar einen Flug ins All. Aber einen Marathon können Sie nicht kaufen, den müssen sie selbst laufen“ mit auf den Weg gegeben. Kluge Worte – und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass die Teilnahme am Marathonprojekt des SV Kiefer Darmstadt bei so manchem „Internen“ einiges bewegt hat.
Bliebe noch zu erwähnen, dass der Darmstädter Knastmarathon eine der am besten organisierten Laufveranstaltungen ist, die ich je erlebt habe. Sowohl Insassen als auch Mitarbeiter der JVA (und deren Angehörige) ackern nach Kräften, um diesen Lauf zu einem Erfolg werden zu lassen. Die Startgebühr von 10 Euro ist praktisch „geschenkt“ und nur möglich, weil Sponsoren aus der Region das Projekt unterstützen.
Achja, wer nun im kommenden Jahr auch mit dabei sein möchte, kann auf eine Wiederholung des Laufes zählen. Nach dem Erfolg von Premiere und zweiter Auflage ist die schon beschlossene Sache. Ich werde wohl auch wieder auf der Startliste stehen. Sogar dann, wenn am Tag zuvor kein Rennsteiglauf sein sollte. Es gibt ja noch andere Veranstaltungen, um einen Doppeldecker zu organisieren.
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